Texte von Hugo Rupp

Alleinstellungsmerkmal

 

Ich bin Ophelia. Die der Fluß nicht behalten hat. Die Frau am Strick Die Frau mit den aufgeschnittenen Pulsadern Die Frau mit der Überdosis AUF DEN LIPPEN SCHNEE Die Frau mit dem Kopf im Gasherd. Gestern habe ich aufgehört mich zu töten. Ich bin allein mit meinen Brüsten meinen Schenkeln meinem Schoß. Ich zertrümmre die Werkzeuge meiner Gefangenschaft den Stuhl den Tisch das Bett. Ich zerstöre das Schlachtfeld das mein Heim war. Ich reiße die Türen auf, damit der Wind herein kann und der Schrei der Welt. Ich zerschlage das Fenster. Mit meinen blutenden Händen zerreiße ich die Fotografien der Männer die ich geliebt habe und die mich gebraucht haben auf dem Bett auf dem Tisch auf dem Stuhl auf dem Boden. Ich lege Feuer an mein Gefängnis. Ich werfe meine Kleider in das Feuer. Ich grabe die Uhr aus meiner Brust die mein Herz war. Ich gehe auf die Straße, gekleidet in mein Blut.

Heiner Müller Die Hamletmaschine

Wie Vater schaute, wenn ihm etwas nicht gefiel, und dann auch meine Mutter weinte, wenn ihm etwas an ihr missfiel. Wenn ich ihr Gesicht dann ansah, wenn ich für sie und mit ihr weinte, weil Vater was gemacht hatte. Wenn ich Mitleid mit meiner Mutter fühlte, war sie doch niemals enttäuscht von ihm. Wie ich das nur bereuen sollte, wenn ich mit ihr und bei ihr blieb, wenn Vater was gesagt hatte, das ihr die Tränen in die Augen trieb. Wie ich immer nur vergeblich etwas suchte, das sie nicht vertrieb, an dem sie nichts auszusetzen hatte. Wie sie mich doch immer nur dann auch vertrieb, wenn ich mit ihr weinte. Wie sie dann an mir, selbst wenn ich für sie weinte, auch daran etwas auszusetzen hatte.

Was wirfst du uns denn vor? Was hast du denn nur immer an uns auszusetzen!?

Wenn Vater an mir vorüberging und mich leicht streifte, dann schaute er, als hätte ich ihn angefasst, als wollte ich ihn angreifen. Bösartig und feindselig, dass er mir grundlos weh tun konnte.

Wie ich dann später ohne Anlass suchte, wie die Eltern vor mir, um jemandem wehzutun.

Man schaut nicht in die Sonne! Davon wird man blind, sagt Mutter.

Ich spürte keinen Mut als Kind beim Blinzeln in die Sonne, nur Angst und Unbehagen, ich könnte niesen, und meine Mutter würde mich ausschimpfen. Sie hatte doch an allem etwas auszusetzen, was nur im Ansatz Freude machen konnte und befreiend wirkte.

Was schaust du mich so an? Was blinzelst du! Hast du schon wieder etwas ausgefressen!?

Jetzt weiß ich, was das ist, warum mir an der linken Hand mein Daumen an der Wurzel plötzlich weh tut. Mein Vater drehte mir den linken Daumen um, wenn ich ihm meine linke Hand zum Halten gab. Bevor wir auf der Straße an den Sonntagen vor unsrem Haus losgingen. Der Ordnung halber, immer wieder. Und immer wieder habe ich vergessen, dass links für ihn nicht richtig war. Dann schaute er mich an und lächelte, dann langte er an meine linke Hand und drückte nur ganz kurz, mit seiner rechten Hand, ganz schnell dann meinen linken Daumen. So schnell, dass ich nie wissen sollte, ob das jetzt Absicht war, Versehen, oder gar nichts. Er sagte dazu nichts, und in mir war ein Zorn, gleich nach dem Schmerz, der nicht heraus und keine Richtung finden konnte.

Ich zweifelte an mir und meiner Wahrnehmung und der Empfindung andauernd. Denn meine Eltern waren so gewitzt gewalttätig und ihr System für mich so unverständlich grausam, dass ich im Grunde nicht einmal verstand, wenn mir der Schweiß ausbrach, wenn sie mich so anschauten, als hätte ich etwas getan, als hätte ich schon wieder was verbrochen.

Gewalt war systemisch. Sie war tatsächlich umfassend und wirkte deshalb so in mir; mich selbst und alles Gute in mir umwerfend, zerstörerisch. Denn ihr System war grenzenlos. Es war deswegen so erfolgreich, in der Vermittlung, Weitergabe, weil es gar keine Feinde oder Gegner hatte. Weil sie und ihr System jegliches Kinderleid verleugnen und zunichte machen konnten.

Sie taten später so, als hätten sie das gar nicht mitgekriegt, als hätten sie das nicht gewusst, was sie mir alles zugefügt hatten. So dachte ich tatsächlich später, sie hätten mir gar nichts getan.

Hier spricht Elektra. Im Herzen der Finsternis. Unter der Sonne der Folter. An die Metropolen der Welt. Im Namen der Opfer. Ich stoße allen Samen aus, den ich empfangen habe. Ich verwandle die Milch meiner Brüste in tödliches Gift. Ich nehme die Welt zurück, die ich geboren habe. Ich ersticke die Welt, die ich geboren habe, zwischen meinen Schenkeln. Ich begrabe sie in meiner Scham. Nieder mit dem Glück der Unterwerfung. Es lebe der Haß, die Verachtung, der Aufstand, der Tod. Wenn sie mit Fleischermessern durch eure Schlafzimmer geht, werdet ihr die Wahrheit wissen.

Heiner Müller Die Hamletmaschine

So lernte ich: So tun, als wäre nichts gewesen. Mich und auch jeden anderen belügen. So tun, als wäre das gar nichts, auch wenn die ganze Welt absäuft. Das lernte ich von Vater und von Mutter. So tun, als wäre ich selbst blind, damit die Wut ertrinkt.

Was wirfst du uns nur vor!? Was hast du nur gegen uns!?

So tun, als wäre nichts gewesen, bedeutet für ein Kind, das gleiche tun und lassen müssen; sich gleich verhalten müssen. Wer die Gefühle unterdrückt, wie er sie doch als Kind verleugnen und verdrängen hatte müssen, kann nur von anderen was lernen.

Die schlimmste und befreiende Erfahrung aber ist, dass man mit dem Gefühl erst Neues und Befreiendes von sich selbst lernen kann.

Dass alles Sehnen, nicht nur vergeblich scheint, sondern vergeblich sein muss, für mich, stammt also auch aus meiner Kindheit, von Vater, Mutter; haufenweise.

So tun, als wäre nie etwas gewesen, die Botschaft des verzweifelt sein und immer nur vergeblich etwas tun müssen. Mein Vater und die Mutter verbreiteten Vergeblichkeit. Mit dieser Botschaft fror ich schrecklich, mit dem Gefühl, dass alles nur vergeblich sei. Mein Schreien, meine Hoffnung und mein Leben. Die Eltern hetzten unaufhörlich gegen jede Art Empfindung. So froren sie mich ein. Ich stellte mein Gefühl und das der Liebe ein. Zu schrecklich ist doch die Erfahrung, ein mit der Liebe und dem Leiden unerwünschtes Kind zu sein.

Ich glaube, ich wäre heute tot, wenn er nicht stehengeblieben wäre. Doch komischerweise hat er kein Wort zu mir gesagt. Er stand bloß da, bis ich es mir selbst sagte, aber ich glaube nicht, daß er irgend etwas gesagt hat. Er brachte mich dazu, es zu sagen.

Norman Maclean Junge Männer im Feuer

Dass ich am Leben hing, war schließlich meine eigene Entdeckung. Als sie mich so allein und mich vergeblich weinen, weinen, und vergeblich schreien ließen. Sie haben mich vergeblich leiden und verzweifeln müssen erst gelehrt. Dass ich am Leben bin und noch lebendig, verdanke ich nicht meinen Eltern. Sie waren lebensfeindlich mir gegenüber eingestellt, sie haben mich an jeder meiner Äußerungen nur gehemmt. Sie haben mich zurückgehalten und haben so getan, als würden sie mich so beschützen.

Wir mussten dich doch vor dir selbst in Schutz nehmen, sagt sie. Du warst doch außer Rand und Band, sagt er.

Sie haben mir das immer wieder vorgehalten und vorgelebt, dass meine Wut, mein Zorn, bedrohlich für mich selbst wären. Doch Wut und Zorn in einem Kind, sind Fluchtfeuer, die ein Kind schützen und bewahren und retten können vor Gefahren; vor blinder Wut und kaltem Zorn.

Gefühlte Wut schützt vor Vergesslichkeit, Vergeblichkeit. Jetzt wird mir endlich klar, nach was ich all die Jahre über suchte, ohne zu wissen, was das war. Nach der Beglaubigung, Authentifizierung von Gefühlen und Empfindungen. Ohne sich selbst zu glauben können, versucht ein Menschenkind, das einst traumatisch selbst erlebte, dann immer doppelt und dreifach und wiederholt nur immer wieder zu erleben. Das einst Erlebte und Erfahrene, nur immer wieder durchzuspielen, weil niemand die authentischen Gefühle einst ursprünglich erwidert hatte.

Die größte Qual als Kind war das, dass ich mit allem, was ich sah und fühlte und erlebte, doch gar nicht glaubhaft war. Dass ich für mich und die Gefühle und Empfindungen, nicht glaubhaft war und auch nicht werden hatten können. Weil meine Freude, meine Wut, mein Zorn, mein Schmerz und meine anderen Gefühle, nicht glaubhaft werden konnten. Dass ich, mit allem, was ich fühlen und empfinden konnte, für mich nicht glaubhaft war.

Das ist doch gar nicht wahr. Das bildest du dir doch nur ein. Daran kann ich mich nicht erinnern. Da täuschst du dich. Das kann ich mir nicht vorstellen, dass Vater das zu dir gesagt hätte. Das drehst du etwas um. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, von deinem Vater je so etwas gehört zu haben. Das kann ich mir nicht vorstellen, dass dich dein Vater so beleidigt. Was hätte er denn für einen Grund dazu!?

Unmissverständlich ausgedrückt, verteidigt Wut authentische Gefühle, wie nichts sonst auf der Welt. Denn ein traumatisiertes Kind bleibt seelisch ewig auf der gleichen Stelle hocken, wie ausgebombt, verletzt, nach einem Krieg. Es hütet seine Sieben Sachen in der Not, so ganz allein, wie ein Geheimnis, darauf bedacht, dass endlich jemand kommt, im besten Fall, der Vater und die Mutter, und es auslacht. Als wäre nichts gewesen. Ein solches Kind muss ewig warten lernen, ein Kind, das nicht gehört und nicht geliebt wurde.

Den Aufschluss aber, über verborgene Gefühle, kann nur die Wut des kleinen Kindes geben, als seine Antwort auf Verbrechen und Zerstörung; als seine Sprache für sich selbst.

Du hast an allem etwas auszusetzen. Musst du uns unentwegt nur immer wieder kritisieren!? Du lässt kein gutes Haar an deinem Vater.

Was ich als Kind von mir erwartet habe, was ich dabei empfand, wenn meine Eltern mich beschimpften? Ich sollte sie gern haben. Das ist, was ich von mir erwartet habe. Dass ich sie doch trotz allem mögen wollte. Die eigene Erwartung und Forderung, die ein Kind insgeheim an sich, eventuell ein Leben lang, selbst stellt, es müsste Eltern lieben, als unerwünschtes Kind. Dann würde sich Feindseligkeit und Hass auch irgendwann von selbst erübrigen. Als müsste so ein unerwünschtes Kind, den Wunsch der Eltern noch erfüllen. Als könnte so ein unerwünschtes Kind wie ich, doch noch zu einem Wunschkind werden.

Ich wollte nicht mehr unerwünscht sein und habe deshalb meine Wut und alle anderen authentischen Gefühle in mir erstickt und unterdrückt.

Nicht vergessen! / Note to self

Tatsächlich Liebe neu bewerten, bedeutet auch den Hass erleben und begründen.

Vergeben und vergeben und vergeben müssen, verhindert das Gefühl in einem Kind. Dem Hass der Eltern immer nur vergeben müssen, behindert ein Kind nur. Den eignen Hass nicht sehen können und nicht fühlen dürfen. Wie das die Eltern vormachten. Den Hass in einem Kind und den der anderen verlachen und verhindern, und verachten. Auf einem Auge immer blind. Wie meine Mutter und mein Vater mich behandelt hatten. So wurde dann auch ich, ihr Kind, auf einem Auge blind. Vergeben und vergeben und nur vergeben müssen. So wie ich das als Kind gelernt hatte. Die Mutter und der Vater ließen mich für ihren Hass so büßen, indem ich ihrem Hass doch immer nur vergeben hatte müssen.

Für die Vergebung ihrer Taten und Verbrechen, der Schreckensherrschaft meiner Eltern, schämte ich mich so sehr, dass ich mich schließlich auch noch dafür hasste. So sehr war das vergeben und vergeben müssen stets in mir.

Jetzt hör schon endlich auf! Wie kann man denn so böse sein, sagt sie. Jetzt hör endlich zu pulvern auf. Dass ihr die Spucke aus den Winkeln ihres Mundes kommt. Jetzt halt endlich den Mund! Wie kann man nur so böse sein. Du musst doch nicht auf deinen Vater eifersüchtig sein, sagt sie und lächelt plötzlich wieder.

Sie redete mir Eifersucht und Schuld so ein. Ich sollte meinen Hass auf meine Eltern niemals fühlen. Doch der gefühlte Hass befreit ein Kind, das unter dem vergeben und vergeben müssen, doch ewig an der Mutter und dem Vater hängen bleibt und unter dem vergeben müssen, stumm und unaufhörlich leidet, und so vergeben müssen unaufhörlich an sich predigt. Sich so auch unaufhörlich selbst verleidet. So kann ein Kind sich schließlich nicht mehr selber leiden, denn es verbrennt sich doch, bestraft sich so im Grunde für die Verbrechen seiner Eltern. Es hält doch immer nur die eigne Hand für die Verbrechen seiner Eltern selbst ins Feuer. So richtet ein Kind seinen Hass dann schließlich gegen sich und später gegen Sündenböcke.

Doch dieser Hass gehört zu seinen Eltern. Zu niemand sonst. Dass dieser Hass erst dann niemanden mehr betrifft und niemand sonst noch treffen kann. Dass dieser Hass des Kindes auf die Eltern sich dann erstmals befreit, befreit das Kind dann endgültig aus jener Falle, die sich vergeben müssen, vergeben sollen, Vergebung um der Vergebung willen, nennt. Endlich befreit.

Wer ein Kind zur Vergebung zwingt, hasst dieses Kind. Vergeben hat nichts zu tun mit Liebe.

Was meine Mutter schier verrückt machte und was sie nicht verstand, wenn sie auf ihren Vogelkäfig schlug, mit ihrem Vogel zitternd, schreiend und nur vergeblich nach der Freiheit suchend, und ihn so anschrie, dass er mit seinen Augen noch das Weite suchte. Der Vogel konnte nicht vergeben, er wollte das für meine Mutter auch nicht tun. Der Vogel wollte nicht mehr näher zu ihr kommen und schrie sie unentwegt auch an.

Solang ein Kind vergeben muss, kann es sich selbst nichts von sich merken. Solang ein Kind vergeben muss, kann es sich selbst auch nicht mehr lieben. Denn wer vergeben muss, muss seine Liebe für sich selbst, die Wut, den Hass, den Zorn, gegen die Peiniger doch immerzu nur unterdrücken und vergessen. Denn nicht vergeben, nicht vergessen, was sie tun und sagen und androhen, verachten und so sehr hassen, ist das Alleinstellungsmerkmal für mich gewesen, von meinen Eltern.